30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre friedliche Revolution in der DDR

(Ernst Wellmer, Demmin - 21.07.2020)

Über 30 Jahre ist sie nun schon her - die friedliche Revolution in der DDR. Mit allem hatten die damaligen Machthaber gerechnet, alles geplant: „Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete“, war später von ihnen zu erfahren. Ja, Kerzen in der Hand - auch durch Demmin wurden sie getragen, zunächst allerdings nur zögerlich. Dass immer mehr Menschen auf die Straße gingen, besonders in Leipzig, machte Mut. Dass die Wahlen manipuliert wurden, machte zornig; dass immer mehr Menschen unser Land verließen, machte traurig. Ein Ende der Bevormundung war angesichts der offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR nicht zu erkennen - ganz im Gegenteil. Und so lud das Neue Forum am 18. Oktober 1989 zu einer ersten Demonstration auf unserem Marktplatz ein (übrigens nur zwei Tage nach der in Waren/Müritz); eine zweite folgte am 25. Oktober, also eine Woche später. Noch verständlicher Weise zögerlich, folgten zunächst ca. 30 bzw. 150 Menschen den Aufrufen. Nach dem 18. Oktober erhielten der damalige Superintendent des Kirchenkreises, Dr. Hans-Joachim Schwerin, und weitere Mitglieder des Demminer Gemeindekirchenrates, dem ich als Mitglied und Vizepräses der Kreissynode angehörte, Anrufe von zahlreichen Bürgern, die Friedensgebete auch in unserer Stadt forderten. Dr. Schwerin nahm dieses Anliegen sofort auf. Frau Pastorin Friedburg Gerlach lud in seinem Auftrag kurzfristig einen Vorbereitungskreis ein, bestehend aus Mitgliedern der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde sowie der Landeskirchlichen Gemeinschaft. Und so fand, abgestimmt mit dem Neuen Forum, das sich ebenfalls regelmäßig im evangelischen Gemeindehaus traf, am Abend des 01. November 1989 -einem Mittwoch- das erste Friedensgebet mit ca. 2.000 Teilnehmern in der St. Bartholomaei- kirche statt. Dem Orgelspiel und einem Friedenslied folgten mehrere Ansprachen, in denen u.a. Meinungs-, Reise- und Pressefreiheit, freie Wahlen und eine Bildungsreform gefordert wurden. Fürbitten mit gleichzeitigem Kerzen-Anzünden und ein Segenswort folgten, bevor sich die zahlreichen Menschen - nach der Unterzeichnung einer Petition für die Zulassung des „Neuen Forums“ - zur Demonstration auf den Markt begaben; mit noch zitternden Knien (mir jedenfalls ging es so), mit Spruchbändern, Fahnen und „Wir sind das Volk“- Rufen.

Von nun an folgten wöchentlich -jeweils mittwochs- weitere Friedensgebete und Demonstrationen mit unterschiedlichen Zielen und Forderungen. So zogen wir - immer entgegen der Straßenführung - zu einer Kreisdelegiertenkonferenz der SED in der damaligen „Heinz-Hoffmann-Halle“; zum Rat des Kreises mit Übergabe einer Petition an den Stellvertreter für Inneres. Ein anderes Mal wurden dem tagenden Kreistag Forderungen zu einer Bildungsreform überreicht. Darin wurde z.B. „die Ablösung des Kreisschulrates durch einen Lehrer mit Sach- und Verantwortungskompetenz sowie menschlicher Reife“ gefordert. Die Schulen sollten „ihre Arbeit ohne Bevormundung“ tun können. Es wurden außerdem Festlegungen erwartet, „wonach keine anderen als Persönlichkeits- und Leistungsfragen, also wirkliche Eignung, als Kriterien für Entscheidungen über spezielle oder weiterführende Bildungswege ausschlaggebend sind“. Besonders schwer war der „Gang durch die Stadt“ zur ehemaligen Kreisdienststelle der Staatssicherheit in der Heinestraße, wo auch sehr emotional die Auflösung der Stasi und die Sicherung ihrer Unterlagen gefordert wurden. Immer wieder war es Dr. Schwerin, der spätere Ehrenbürger unserer Stadt, der diese Anliegen sehr unterstützte, aber zugleich zu friedlichem Handeln, zu Sachlichkeit und zu Besonnenheit aufrief. Hunderte Kerzen brannten anschließend noch lange an den jeweiligen Orten und erinnerten am nächsten Morgen weiterhin an die Forderungen und Erwartungen in der Kreisstadt. Auch an der Menschenkette zum Thema „Ein Licht für unser Land“ auf der B 96 am 03. Dezember 1989 waren zwischen Jarmen und Altentreptow viele Demminerinnen und Demminer beteiligt. Weitere Themen der Friedensgebete und Demonstrationen war die Sicherheit des Kernkraftwerkes Greifswald/Lubmin, eine Forderung an die Regierung der DDR, die Gestapoanordnung von 1939 zur Zwangsauflösung und -enteignung der jüdischen Gemeinde Berlins aufzuheben, oder auch ein Aufruf zur Bildung eines zukünftigen Landes ´Vorpommern´. (An einem gestärkten Vorpommern arbeiten wir ja heute noch.)

Als Sprecher des Friedenskreises der Kirchen hatte ich damals u.a. die Aufgabe, die Demonstrationen beim Volkspolizeikreisamt anzukündigen und mit dem Leiter deren Absicherung abzustimmen. Außerdem habe ich die Presse, welche anfänglich aber nur sehr spärlich berichtete, entsprechend informiert. Ich kann hier sagen, dass sich die Polizei in Demmin an alle Absprachen hielt und mich korrekt behandelte. Dennoch war ich immer erleichtert, wenn ich das VPKA-Gebäude wieder verlassen konnte. Allerdings hatte ich auch den Eindruck, dass die ´Volkspolizisten´ froh waren, nicht mehr politisch motiviert gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger vorgehen zu müssen.

Letztmalig wurde in Demmin am 07. März 1990 zu einem Friedensgebet eingeladen. Hier ging es nicht mehr nur um die eigene Zukunft, sondern um die Bereitschaft, auch anderen zu helfen. So gab es die Forderung, die Zoll- und Postbestimmungen für Hilfs- und Solidaritätsgüter, bestimmt für Menschen in Rumänien und in der Sowjetunion, zu lockern. Dazu wurden Schreiben an das zuständige Post-Ministerium und die Zollverwaltung der DDR verabschiedet, unterschrieben und abgeschickt. Auch wurden 1.500 Mark für die anstehende Sanierung des Kirchturms von St. Bartholomaei gespendet. Außerdem stellten sich die neuen Bürgerbewegungen und Parteien mit ihren Programmen vor, deren Kandidaten zur ersten demokratischen Wahl am 18. März 1990 antreten wollten. Interessant ist es, in den wenigen noch vorhandenen Unterlagen aus dieser Zeit zu blättern. Aus Angst vor dem Überwachungsstaat wurde damals leider kaum fotografiert, nur das Wichtigste schriftlich fixiert und damit auch festgehalten. Nur kleine Randnotizen, fast ausschließlich ohne Fotos, waren in der Kreiszeitung, der „Freien Erde“, über die Wendezeit zu finden. Auch aus Leserbriefen wurden lediglich verkürzte Auszüge wiedergegeben. Immerhin zitierte die Zeitung aber am 08. November 1989 z.B. aus einem meiner Berichte über das zuvor stattgefundene Friedensgebet mit über 1.500 Menschen die kritische Frage, warum nicht auch in der Kreisstadt Demmin verantwortliche Politiker, wie zuvor in Neubrandenburg oder Loitz, öffentlich den Bürgern Rede und Antwort stehen. „Zugleich stellt unser Leser die Frage, wie in dieser bewegten Zeit ein angesetztes Rathausgespräch kurzfristig um über eine Woche verschoben werden kann…“ heißt es weiter in dem Artikel.

Bei der nächsten Demo mit rd. 2.000 Teilnehmern waren dann der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und auch der Vorsitzende des Rates des Kreises auf dem Demminer Marktplatz zugegen. Die Zeitung berichtete, dass „Genosse Manfred Kuhnt“ die „Verantwortung der SED für die eingetretenen Zustände“ unterstrich, „aber auch die Bereitschaft (bekundete), die begonnene Wende unumkehrbar zu machen.“ Weiter hieß es in dem Beitrag: „Viele seiner Worte gingen in erregten Reaktionen des stimmgewaltigen Publikums unter, wie auch ein Teil der Rede des Ratsvorsitzenden, Genossen Schreiter. … Manchem, der an diesem Abend über erregte Diskussionen und Bekundungen verwundert war, sei gesagt, dass alle neben vielem anderen auch noch den gepflegten Dialog lernen müssen.“ „Gepflegter Dialog“ über politische Fragen war - wie wir alle wissen - jahrzehntelang in der DDR nicht nur nicht möglich. Wer dem herrschenden Regime kritisch gegenüber stand und dies öffentlich zum Ausdruck brachte, den hatte die Stasi im Visier, der hatte keine Möglichkeit beruflicher Entwicklung oder er wurde eingesperrt. Erst der Druck von der Straße, der Druck des Volkes zwang die damaligen Entscheidungsträger zum Einlenken. Dass ihnen der Zorn des bis dahin entmündigten Volkes lautstark vermittelt wurde, ist wohl nicht verwunderlich. Aber Pressefreiheit gab es zu dem Zeitpunkt ja noch nicht… Ich bin froh und dankbar, dass die friedliche Revolution zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes geführt hat. Ich konnte Geschwister umarmen, die vorher nicht einmal zur Beerdigung unserer Mutter in die DDR einreisen durften. Das Öffnen unserer Privatpost durch die Stasi und das Abhören unserer Telefonate hatte - wie auch viele Einschränkungen im persönlichen Leben unserer Familie - ein Ende. Und ich durfte 1990 sogar Bürgermeister „meiner“ Stadt werden; ein Ziel, das ich eigentlich nie hatte!

Über 30 Jahre nach dem Mauerfall, im 30. Jahr der deutschen Wiedervereinigung sollten wir uns ebenso an das große Miteinander während der friedlichen Revolution auch hier in unserer Region erinnern und uns gemeinsam über das Erreichte freuen. Dieses Miteinander brauchen wir auch heute und in der Zukunft!